Sprache als Fokus für Gruppenenergie

Originaltext von Ruth C. Cohn

DAS TZI-THEMA

Im TZI-System bedeutet »Thema« das formulierte Anliegen. In einer Gruppe ist es der zentrierte, meist verbal formulierte Fokus der Aufmerksamkeit. Im günstigen Fall entspricht das Thema dem Anliegen der Teilnehmer; das Anliegen wird meist von dem (der) Leiter(in) oder einer kleinen Kommissionsgruppe formuliert. Wenn aus äußeren Gründen ein Thema vorgegeben ist, das nicht den Anliegen der Gruppenteilnehmer, sondern einem Lehrplan, einem hierarchiegebundenen Betriebsanliegen oder unreflektierter Tradition entstammt, kann eine gute Themenformulierung das Gruppeninteresse wachrufen.

Porträt von Ruth C. Cohn
Ruth C. Cohn

 

Sowohl die Formulierung des Themas als auch seine Einführung soll den Teilnehmern individuell erleichtern, die eigene Eingangstür zu finden. Da alle Menschen verschieden sind, unterschiedliche Bedürfnisse und Anliegen haben und mit jedem Thema unterschiedliche Erinnerungen verbinden, sollen sie nicht gezwungen werden (wie es fast überall üblich ist), denselben Zugang zum Thema zu benützen. Es gibt Menschen, die am besten lernen, wenn sie sich bildlich etwas vorstellen können; andere, die Bewegungsvorstellungen haben; dritte, die zunächst mechanisch auswendig lernen wollen; manche, die Freude daran haben, abenteuerliche Versuche zu machen, und so weiter. Das Thema ist wie ein runder, zu erkundender Raum, der sehr viele Eingangstüren hat, weil es viele Wege zu ihm gibt.

 

Die Möglichkeit, durch Themenformulierungen Interesse zu erwecken, bedeutet Vorzug und Gefahr. Inhalte können interessant werden, die es nicht verdienen, und Inhalte können vernachlässigt werden, die lebenswichtig sind. Darum haben Gruppenleiter die Aufgabe, das Postulat der Eigenverantwortlichkeit auch auf das Gebiet der Themenfindung und -formulierung anzuwenden und, vor allem, das Thema mit der Gruppe zu besprechen. Es muss den Gruppenmitgliedern klar werden, daß bereits mit der Themenfindung, Themensetzung und Themenformulierung eine wesentliche Vorarbeit für die Gruppe geleistet wird. Das Thema selbst ist Teil verantwortlicher Arbeit.

 

Wie wichtig die Themenformulierung ist, ging mir bei einem der ersten TZI-Workshops auf. Das Thema des Workshops war »The Writer's Block« (Der blockierte Schriftsteller). Mehrere Stunden lang drehte sich das Gespräch zwischen den »blockierten« Schriftstellern um die Schwierigkeiten, die ihnen beim Schreiben begegneten. Es war eine verbale Orgie über das Blockiertsein. Da kam mir der Gedanke, das Thema umzuformulieren in »Freeing Creativity in Writing« (Wie setze ich meine schöpferischen Kräfte beim Schreiben frei?) Im Nu verwandelte sich die gemeinsame Klage über blockiertes Denken in ein Nachdenken darüber, wann der eine oder andere seine Blockierung wenigstens temporär überwunden hatte, und mit welchen Ideen ~s sich lohnen könnte zu experimentieren.

 

Ein adäquat formuliertes und eingeführtes Thema unterstützt die Gruppenbildung und das gemeinsame Arbeiten. Das Thema übernimmt einen Teil der Leitungsfunktion, denn es hilft dem Einzelnen wie der Gruppe, die Sache, um die es geht, im Auge zu behalten.

 

Ein adäquat formuliertes Thema

  • ist kurz und klar formuliert, so dass es dem Gedächtnis stets präsent bleibt;
  • ist nicht abgedroschen und langweilt deshalb auch nicht;
  • ist in bezug auf Sprache und Wissensanforderungen auf die Teilnehmer zugeschnitten;
  • ist so gefasst, dass es niemanden ausschließt und niemandes Gefühle verletzt;
  • ist nicht so eng (konkret) gefasst, um nicht Raum zu lassen für freie Einfälle, Gedanken und Bilder, und
  • nicht so weit (abstrakt) gefasst, dass es alles zulassen und nichts fokussieren würde;
  • hat auch gefühlsmäßigen Aufforderungscharakter (Gruppenjargon, witzige oder lyrische Formulierung, Anklingen an aktuelle Geschehnisse u. ä.);
  • eröffnet und begünstigt neue Horizonte und Lösungswege; ist jedoch nicht so einseitig formuliert, als dass es andere Möglichkeiten ausschlösse und dadurch manipulativ wäre;
  • verstößt nicht gegen die Wertaxiomatik der Menschenrechte und die Wertaxiome der TZI;
  • begünstigt den Prozess der Gruppe, insofern es, sowohl logisch als auch psychoIogisch, in die Sequenz der zu bearbeitenden Themen paßt und die dynamische Balance zwischen den verschiedenen Anliegen der Teilnehmer und den Sachnotwendigkeiten in Betracht zieht;
  • beachtet die verbale Ausdrucksfähigkeit und die Sprachgewohnheiten der Gruppenteilnehmer und bezieht die Möglichkeiten nonverbaler Themendarstellung ein (Bilder, Pantomime, Materialien mit Aufforderungscharakter usw.).

Es gibt Situationen, in denen Themen überhaupt nicht formuliert werden können oder sollten. Dies sind Ausnahmen. Zu ihnen gehören unter Umständen Therapiegruppen, in denen Themen eher aus dem Unbewussten oder aus spontanen Beziehungssituationen entstehen sollten, aber auch Zwangs-, und Widerstandsgruppen (Strafgefangenengruppen, von der Firmenleitung entsandte Betriebsgruppen, Autonomie suchende Jugendgruppen usw.), die Themen grundsätzlich misstrauen müssen. Auch in fortlaufenden Kursen kann die routinemäßige Themenfestlegung überflüssig und langweilig werden.

 

In Kindergruppen und in manchen Behindertengruppen sind bildliches Anschauungsmaterial oder Spiele, unter Umständen auch ein Text notwendig, in anderen Gruppen gelegentlich wünschenswert.

 

In der Regel jedoch sind verbal gut formulierte Themen, die gut vorbereitet sind, den Anliegen der Gruppen optimal entsprechen und jedem Teilnehmer einen eigenen Einstieg erlauben, vorrangiges Mittel der Gruppenarbeit.

 

Themenfindung, Themensetzung, Themenformulierung und Themeneinführung nehmen relativ viel Zeit in Anspruch, wirken sich aber für die Arbeit selbst erstaunlich effektiv aus.

 

Eine Einführung oder Hinführung zum Thema durch den Leiter oder die Leiterin ist fast immer nötig, weil die Teilnehmer selten direkt vor einer Sitzung oder vor einer Unterrichtsstunde das zu besprechende Thema im Kopf haben. Die Hin- oder Einführung soll ein Sichzentrieren auf das Thema erleichtern und den eigenen Einstieg in die Aufgabe fördern.

 

Es gibt unzählige Einführungstechniken. Einige Beispiele:

  • Mehrere Punkte zum Thema aufzeigen, ohne Schwerpunkte zu setzen;
  • ein Brain- und Heartstorming (Wörter oder kurze Sätze von den Gruppenmitgliedern einwerfen lassen, die ihnen zum Thema einfallen)
  • eine persönliche »Phantasiereise« (z. B. das »Drei-Schritt-Schweigen«) zum Thema:
    1. frühere Erinnerungen und Gedanken (Schweigen),
    2. jetzige Gedanken und Gefühle (Schweigen),
    3. danach die Frage, wie sich jeder Teilnehmer zu diesem Thema aktivieren könnte;
  • ein kurzer Dialog zwischen den Leitern und/oder einem der Gruppenteilnehmer über mögliche Perspektiven des Themas;
  • ein kurzes Referat oder Text.

Es ist sehr selten gut, wenn der Leiter oder die Leiterin eine einzelne Geschichte oder Meinung zur Einführung bringt, weil dies die Gedankengänge und das Interesse der Teilnehmer auf das Leiteranliegen konzentriert anstatt den eigenen Einstieg zu erleichtern. Leiter sollten ihre eigenen Geschichten und Meinungen erst später einbringen.

Aus: Ruth C. Cohn / Alfred Farau: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Klett-Cotta, 1984